Das Interesse an den USA ist hierzulande ungebrochen, aber auch bei vielen Beobachter*innen das Mitfiebern und, ja, auch die Besorgnis darüber, wie und wohin sich das Land entwickelt, wie es seine Rolle in der Welt sieht und wahrnimmt. Die Präsidentschaftswahlen 2020 – Trumps Niederlage, Bidens Sieg – , zu Beginn des Jahres 2021 die Senatsstichwahlen in Georgia, die Stürmung des Kapitols durch Trump-Anhänger und natürlich die Amtseinführung von Joe Biden sind nur die letzten in einer Reihe von Höhepunkten; zahlreiche weitere kündigen sich bereits für 2021 an.
Interesse heißt dabei keinesfalls unbedingt Zustimmung, tatsächlich sind im deutschen Sprachraum viele Menschen dem Land als Ganzes gegenüber zunehmend kritisch eingestellt. Interesse heißt jedoch vor allem nicht zwingend Hintergrundwissen – und hier setzen wir an. Ein Beispiel: In den USA – einem kontinentalen Flächenstaat mit gut 330 Millionen Menschen – dominieren seit 200 Jahren nur zwei große Parteien. Aber: Hinter diesen Parteien und in deren Umfeld stehen mindestens ein halbes Dutzend politischer Strömungen, Flügel und Interessenlagen, die nicht nur gegeneinander, sondern auch parteiintern in einem Spannungsverhältnis stehen. Der mediale Fokus auf die Hauptstadt Washington und auf das Weiße Haus, auch auf die Metropole New York ist wichtig und richtig. Aber er reicht nicht aus, um das immer vielfältiger gewordene Land angemessen zu verstehen.
Tatsächlich ist der Boden, auf dem bei uns über die USA seit Jahren debattiert wird, zumeist recht schwankend. Wir beobachten z.B. über längere Zeiträume hinweg, wie zunächst 80% der Deutschen nahezu kindlich-naive Hoffnungen ausdrücken, mit Barack Obama werde nach der kontroversen Bush-Präsidentschaft alles gut mit den USA und der Welt. Acht bis neun Jahre später wiederum verdammen über 80% der Deutschen die USA unter Trump in Bausch und Bogen – obgleich sich bei der Wahl 2016 nur gut 100.000 von 330 Millionen US-Amerikanern anders entschieden haben als zuvor. Anfang 2021 scheint mit der Wahl Joe Bidens wieder fast alles gut zu sein, doch erneut gaben lediglich 250.000 Wählerstimmen in 3 bis 4 Bundesstaaten den Ausschlag, wenngleich der Gesamtabstand zwischen dem Gewinner Biden und dem Verlierer Trump landesweit bei knapp sieben Millionen Menschen lag.
Wenngleich wir selbst sämtliche innen- wie außenpolitischen Aspekte und Eskapaden der USA leidenschaftlich genau und fortlaufend beobachten, erwarten wir eine ähnlich gelagerte Leidenschaft (die vielen – nachvollziehbar – eher Leiden verschafft) nicht von allen anderen. Gerade deshalb wollen wir zeigen, warum es Sinn macht, die hiesige Hass-Liebe zu den USA in ihren extremen Ausschlägen zu hinterfragen. Und sie im besten Fall durch ein informiertes Verhältnis auf Augenhöhe, in freundschaftlicher Aufgeschlossenheit aber mit der nötigen kritischen Distanz zu ersetzen. Zu diesem Zweck möchten wir unser gesammeltes Wissen über die letzte Supermacht der Erde und ihren Platz im globalen Netzwerk der Nationen einbringen – und dem Dialog über Amerika hierzulande einen neuen, unserer Zeit angemessenen Spin geben.
Nachvollziehen – deuten – beurteilen: Und nicht umgekehrt!
Wie bereits im Titel unseres gemeinsamen Buchprojektes aus dem Jahr 2016 – Entzauberung – angedeutet, sind wir der Meinung, dass die USA durchaus einem offenen Buch gleichen, das sich mehr als jedes andere Land evidenz-basiert analysieren und interpretieren lässt. Die Weltsprache Englisch ist leicht zugänglich, die Datenlage enorm, in keinem Land ist die Informationsbeschaffung einfacher. Und dennoch wird häufig auf dünner Faktenlage, ideologisch oder verklärend-nostalgisch bzw. hasserfüllt über die USA gesprochen und berichtet. Gerade weil man in dem ungemein vielfältigen Land für jedes Vorurteil eine Bestätigung findet, ist es wichtig, subjektive Beobachtungen und Eindrücke in ein angemessenes Verhältnis zum Datenreichtum zu setzen, der im Falle der USA vorhanden ist.
Als Politikwissenschaftler und Politikbeobachter sind wir etwa weit davon entfernt, die Bedeutung des US-Präsidentenamtes zu unterschätzen, aber: Die USA sind ein riesiges und extrem komplexes, ein heterogenes und vielfältiges Land, das sich nicht von einer Person alleine steuern lässt, egal, ob diese Person ihr Amt verfassungskonform oder autoritär-imperial versteht und ausübt. So war und ist Trump nicht die Ursache der inneren Zerrüttung der USA und ihrer generellen Verunsicherung, was ihre Rolle in der Welt angeht. Vielmehr ist er eines der Symptome dieser Erschütterungen, die auch nicht sofort verschwinden, nun da Biden das höchste Amt übernommen hat.
Aufgrund dieser Tatsache, die sich in ihren Facetten in vielen anderen Beispielen spiegelt, versuchen wir uns unverzagt an der Quadratur des Kreises, setzen im Detail an und spannen den großen Bogen: Wir blicken auf beispielgebende Einzelstaaten wie Kalifornien und Texas, begeben uns auf die Gänge der Macht in der Hauptstadt, tauschen uns mit Expert*innen vor Ort an den Think Tanks und Universitäten aus. Dann entwerfen wir immer wieder aufs Neue eine Weitwinkelaufnahme der USA, die den Beobachter das große Ganze erfassen lässt.
Das ist der Anspruch. Kann er gelingen? Wir meinen, ja. Wir sind Suchende, aber informierte und wissbegierige, aufgeschlossene und kritische Suchende. Wir sind nicht immer und in allem einer Meinung, und wir betrachten dies als Stärke, die uns beide und unser beider Arbeit besser werden lässt.
Wir wissen um uns und streiten gerne. Was wir (noch) nicht wissen: Wie sich das Land in den nächsten 25-30 Jahren entwickeln wird. Ob Obamas Traum Wirklichkeit wird, wonach eine strukturelle Mehrheit aus progressiven Weißen, welche die demographischen Veränderungen nicht als Bedrohung, sondern als Chance sehen, und den Minderheitengruppen die USA zu einer wirtschaftlich dynamischeren und gleichzeitig gerechteren Nation weiterentwickeln. Oder ob sich die tiefe politisch-ideologische Spaltung des Landes und die damit einhergehende Tribalisierung durch die Ausweitung der Identitätspolitik auch auf die weiße Mehrheitsbevölkerung auswirken. Und sich damit das Land als Ganzes in bürgerkriegsähnlichen Zuständen derart aufreibt, dass die nationale Einheit zur Disposition steht. Schließlich könnte es sein, dass ein parteiübergreifender Konsens über wichtige gesellschaftliche Fragen, gerade auch über Amerikas Rolle in der Welt, doch noch eine Chance hat – vielleicht nur deshalb, weil es wie im Kalten Krieg eine neue externe Bedrohung, diesmal in Gestalt Chinas, gibt, die von allen politischen Kräften (mit Ausnahme der Ränder) anerkannt wird.
Das große Bild: Unser ganzheitlicher Ansatz
Wir behaupten nicht, dass wir die USA auf allen Ebenen und in sämtlichen Aspekten besser kennen als andere Fachleute. Dies wäre im Falle eines global vernetzten Riesenlandes mit der drittgrößten Bevölkerungszahl der Erde und der 27-fachen Fläche Deutschlands absurd. Schon deshalb sehen wir unseren Zugang nicht als einen dem diplomatischen, journalistischen, auf Geschäftsbeziehungen oder Familienbande gründenden überlegen an. Politische Entscheidungsträger haben teils privilegierte Zugänge zur Macht, die uns oft fehlen. So manche Militärbasis, so mancher Theater-Backstage-Bereich wird uns verschlossen bleiben, wo andere Zugang finden. Doch haben wir den Anspruch eines ganzheitlichen Blickes auf die USA.
Ganzheitlich heißt zuerst, dass wir dieses große und bevölkerungsreiche Land auch als Nationalstaat betrachten, aber nicht nur. Mit dem US-Dollar als Leitwährung und dem mit Abstand größten Verteidigungshaushalt aller Staaten projektieren die USA weiterhin weltweite Macht. Konkret geht es uns um (1) die Einbettung der USA in das moderne Nordamerika – also im Kontext von Mexiko und Kanada und der Karibik. Darüber hinaus (2) auch ganz dezidiert in seiner indo-pazifischen Dimension und eben nicht nur in transatlantischer Hinsicht. Letzteres dominiert hierzulande klar, trifft jedoch aus Sicht der USA so immer weniger zu.
Ganzheitlich heißt für uns weiterhin, dass es nicht darum gehen kann, die USA lediglich durch die oft verengende Brille fachwissenschaftlicher und technischer Diskussionen zu deuten, sondern (3) unterschiedliche disziplinäre Zugänge und darüber hinaus generell auch undogmatische Weltanschauungen zur Sprache kommen zu lassen. Hinter mancher Absurdität verbirgt sich eine aufschlussreiche Wahrheit, die USA sind ein Land voller Kuriositäten – die oftmals ihren Sinn haben, wie wir auf zahlreichen gemeinsamen Reisen durch das Land gelernt haben. So hat das riesenhafte Land z.B. zwei ihrerseits enorme Labore vorzuweisen, wo unterschiedliche Lebensweisen, ein differierendes Gesellschafts- und Staatsverständnis erprobt werden: Kalifornien und Texas. Nur in der Verbindung dieses gigantischen innenpolitischen Experiments zum Gesamtverständnis der Nation und ihrer Rolle in der Welt kann man sich einem ganzheitlichen Bild der USA annähern.
Aus ganzheitlicher Warte beobachten wir vermehrt, wie manche Beobachter der USA, gleich ob aus der Wissenschaft, der Welt der Think Tanks oder Medien, bestimmte Entwicklungen und Aspekte überhöhen und dann oft verabsolutieren. Mitunter werden gar bewusst Vorurteile und Haltungen, von denen man glaubt, dass sie in Deutschland besonders häufig auftreten oder gut ankommen, bedient. Das ist nicht schwer: Leicht lassen sich in den USA für alles, was einem politisch, gesellschaftlich oder kulturell zuwider ist, Beispiele erschreckender Radikalität finden – aber auch für das Gegenteil. Die Vereinigten Staaten vereinen zuvorderst Widersprüche und Extremitäten in sich; die größte Prüderie in Verbindung mit der größten Pornobranche der Welt ist nur ein Beleg hierfür. Der Clou besteht unseres Erachtens jedoch darin, sich von extremen Einzelbeispielen nicht blenden zu lassen oder gar vorschnell auf das Ganze zu schließen. Auch deshalb informieren wir uns kontinuierlich bei den unterschiedlichsten Denkern und Denkerinnen in den USA, die ihr Berufsleben der Analyse und Interpretation ihrer Nation widmen und tauschen uns mit ihnen aus, wenn sich die Gelegenheit ergibt. Nur so lässt sich unser Anspruch umsetzen, (4) die USA zunächst aus sich heraus zu verstehen, und sich den Erkenntnisweg nicht durch ein vorgefasstes Urteil von außen zu verstellen. Das Einzelne bedarf der ganzheitlichen Einordnung in ein riesenhaftes und fluides Puzzle – die Mühe lohnt, das entstehende Bild ist von faszinierender Farbkraft.
Da uns ca. zwei Jahrzehnte Lebensalter trennen, sind wir in unseren formativen Jahren zu unterschiedlichen Phasen der jüngeren US-Geschichte mit dem Land in Berührung gekommen, einmal im letzten Jahrzehnt des Kalten Krieges, einmal gegen Ende der Ära Bill Clinton. Diese Zeitversetzung determiniert nicht unseren Zugang zu den USA, aber sie führt in Nuancen durchaus zu unterschiedlichen Einordnungen, zu unterschiedlichen Rahmensetzungen und mitunter auch zu unterschiedlichen Deutungen –bedeutet sie doch (5) den Vorteil einer quasi „doppelt zeitgeschichtlichen“ Perspektive auf das Geschehen. Gleichwohl war der Beginn unserer Zusammenarbeit Ende der Nullerjahre von denselben Einschnitten zu Beginn des 21. Jahrhunderts geprägt: zuerst von den Ereignissen und Folgen des 11. September 2001, danach von der Wirtschaft- und Finanzkrise 2007/08.
Theorie & Praxis: Erlebnis Amerika
Durch mehrere gemeinsam konzipierte und auch gemeinsam durchgeführte Forschungs- und Interviewreisen durch die USA in der Ära Obama sind wir uns schnell einig, wenn es darum geht zu beurteilen, welche Personen oder Entwicklungen unserer Aufmerksamkeit bedürfen. Und wo uns eher heiße Luft entgegenbläst. Es ist uns wichtig, (6) theoretisches Wissen und in Gesprächen und wissenschaftlichem Austausch gesammelte Expertise durch Erkundungen journalistischer Natur zu ergänzen, auch „culture studies on the ground“ zu betreiben, wo dies sinnvoll und möglich ist. Freilich könnte man auch sagen: Wir sind von der Unterschiedlichkeit, der Schönheit, den teils erschreckenden Kontrasten und der Wandelbarkeit Amerikas – und der „Idee Amerika“ – fasziniert und möchten so viel wie möglich davon „live“ erleben...